Indianer haben mich schon als Bub begeistert. Ich stellte mir vor, wie toll es wäre, mit ihnen auf dem Rücken eines Ponys durch die Prärie zu reiten, mit ihnen am Lagerfeuer zu sitzen und den Erzählungen der weisen alten Frauen und Männer zu lauschen. Und ich war bitter enttäuscht, als ich herausfand, dass die Winnetou-Filme im damaligen Jugoslawien gedreht wurden und dass Pierre Brice Franzose ist. Ich habe danach versucht, Karl May zu lesen, aber seine Bücher waren mir zu langatmig – und als ich erfahren habe, dass Karl May nie bei den Indianern gewesen ist, war ich geradezu geschockt.
Meine Mutter, die bei der Union Druckerei in Solothurn arbeitete, brachte mir eines Tages dann „Der rote Seidenschal" von Federica De Cesco nach Hause und ich fand einen neuen Zugang zur Indianerwelt. Allerdings stand ich als Junge damit ziemlich einsam da; meine Schulkollegen spielten lieber Fussball. Also begann ich zu träumen: Von einem Film mit richtigen Indianern, gedreht in ihrer Heimat.
Während meiner Arbeit am Dokumentarfilm „Federica de Cesco, mein Leben, meine Welten" (2008) kam mir die Idee, einen Roman von Federica de Cesco zu verfilmen. In Frage kamen für mich nur „Shana, das Wolfsmädchen" sowie „Aischa oder Die Sonne des Lebens". Meine damals zehnjährige Tochter gab den Ausschlag: Sie wollte unbedingt zu den Indianern gehen.
Mit einer guten Bekannten aus dem Stamme der Onondaga, die in der Schweiz lebt, bin ich losgezogen, um in Kanada Shanas Dorf zu suchen. Im Nicola Valley haben wir nicht nur ein Dorf und Schauplätze gefunden, die meinen Vorstellungen entsprachen, sondern auch das Volk der Scw'exmx kennengelernt. Nun mussten wir nur noch eine Darstellerin für Shana finden. Die Suche hat sich dann allerdings hingezogen, bis die Kulturvermittlerin und Schamanin Leona Rabbitt ihre Hilfe anbot. Mit ihr haben wir eines Morgens vor Sonnenaufgang in einer Zeremonie um Shana gebeten – und am Nachmittag des gleichen Tages stand Sunshine O'Donovan im Casting-Büro.
Mich haben in meiner filmischen Arbeit seit jeher die Schnittstellen interessiert: Da wo Fiktion und Wirklichkeit sich vereinen und etwas Neues entsteht. Auch bedeutet Filmemachen für mich Brücken zu bauen: zwischen Menschen, aber auch zwischen Kulturen. Ich habe die Handlungen aller meiner bisherigen Filme zusammen mit den Personen entwickelt, welche später vor der Kamera standen. So war es auch bei „Shana": Ich habe zusammen mit den Darstellern, die alle dem Stamm der Scw'exmx – den „people of the creeks" – angehören, solange am Drehbuch zu „Shana" gearbeitet, bis die Geschichte ein Teil ihrer eigenen Kulturwirklichkeit wurde.
In „Shana" spielt eine alte Wolfskopfgeige eine wichtige Rolle. Tatsächlich ist die Geige – was ich vor diesem Film nicht wusste – bei den südlichen Indianerstämmen bekannt und beliebt. Die vier Saiten symbolisieren nicht nur die vier Himmels-, bzw. Windrichtungen, sondern auch die vier Menschenalter: Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter, Greisenalter. Anders als in De Cescos Buch spielt Shana im Film nicht klassische Musik, sondern „ihre" Musik, die ihr von den Ahnen und der Natur zugetragen wird: Musik und Gesang funktionieren als direkte Kommunikation mit dem Jenseits.
Gegen Schluss des Filmes, wenn Shana in den Wald geht, begegnet sie ihrer First Mother (ihrer Urmutter) und wird von dieser gehänselt. Die Urmütter wollen, dass wir stark sind im irdischen Leben und unsere Kämpfe austragen und uns nicht verstecken unter dem Rockzipfel der irdischen Mutter. Diese Begegnungen werden bei den Natives "Vision Quest" genannt. Drei Tage und drei Nächte gehen die Jugendlichen in den Wald, um ihren Ahnen zu begegnen und kehren als junge Erwachsene zurück.
Mit „Shana – The Wolf's Music" hat sich für mich ein lang gehegter Traum erfüllt: Ich habe einen Film mit wirklichen Indianern in deren Heimat realisiert. Das Volk der Scw'exmx hat mir, dem Film und den Zuschauern einen Teil seiner Seele geschenkt und ich war nie glücklicher, als im Moment, als sie mir nach der Vorführung von „Shana" sagten, dass mein Film nun Teil ihrer Kultur sei. Ich bin danach mit der Schamanin Leona Rabbitt zum zweiten Mal auf den Berg gegangen und wir haben mit einer Zeremonie um den Segen für die Veröffentlichung unseres gemeinsamen Werkes gebeten.
Nino Jacusso, November 2013